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„Ich dachte, ich bin einfach stark und unabhängig“ - Gespräch von Psychologin und Paartherapeutin Martina H. und Bettina K.: Der lange Weg zur echten Nähe

INTERVIEW, 15.05.2025

 

Martina H. (Psychologin): Frau K., Sie sagten im Vorgespräch, dass Ihnen erst spät bewusst wurde, dass Sie emotionale Nähe in Beziehungen eher gemieden als gesucht haben. Wie kam es dazu, dass Sie sich mit diesem Thema überhaupt auseinandergesetzt haben?

 

Bettina K.: Das kam über einen Umweg. Ich bin vor ein paar Jahren in Therapie gegangen, aber nicht wegen Beziehungsproblemen – sondern weil mein damaliger Partner plötzlich verstorben war. Herzinfarkt. Wir waren sieben Jahre zusammen. Nach seinem Tod war ich gebrochen, aber nicht vor Trauer, sondern ich habe mich inhaltslos und strukturlos gefühlt, während mein Herz gar nicht traurig war.

 

Martina H.: Das klingt, als sei weniger der Mensch als vielmehr Ihre Rolle in der Beziehung verloren gegangen?

 

Bettina K.: Ganz genau. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wer ich bin – und das war der Punkt, an dem ich gedacht habe: Da stimmt etwas Grundlegendes nicht. Deshalb bin ich in Therapie gegangen.

 

Martina H.: Was ist dann in der Therapie passiert?

 

B. K.: Ich habe über den Verlust gesprochen, über die Umstellung, über Stress. Nähe oder Bindung kamen von mir aus gar nicht vor. Als meine Therapeutin dann fragte, wie viel emotionale Nähe in der Beziehung war – da wurde ich innerlich sofort stachelig. Ich dachte: Was soll das jetzt? Ich habe doch kein Beziehungsproblem! Wir waren erwachsene Menschen, beide sehr selbständig und stark. Was soll das mit der Nähe. Ich bin einfach unabhängig und das ist mir wichtig. Ich war schon immer so. Ich war regelrecht empört.

 

Martina H.: Sie haben sich gegen diese Perspektive gewehrt?

 

B. K.: Ja, komplett. Ich war überzeugt: So wie es bei uns war, war es richtig und ich habe mich natürlich auch vollkommen normal gefühlt. Vielleicht war ich nicht besonders romantisch, aber stark, unabhängig und stabil. Ich brauchte einfach Freiraum, der mir Luft zum Atmen gibt. Ich habe mich auch ein bisschen überlegen gefühlt. Ich war in allem, was ich tat, erfolgreich. Ich habe ein Schuljahr übersprungen, knackig studiert, schnell eine sehr gute Position erreicht und zudem hielt ich mich für superschlau und selbstreflektiert. Ich bin rational, ich weiß, was ich brauche – dachte ich zumindest. Mein Selbstbild war ganz klar: Ich habe keine Angst, ich bin stark, ich bin unabhängig, mir kann keiner etwas. Das war meine feste Überzeugung. Dass dieses Bild meine Halluzination und eigentlich meine Rüstung war, habe ich lange nicht sehen wollen.

 

Martina H.: Was meinen Sie mit Rüstung?

 

B. K.: Irgendwann in einem Gespräch mit der Therapeutin ist mir klar geworden, dass mein Verhalten, Nähe und ganze Themen und Gespräche zu vermeiden, keine Störung ist, sondern meine Strategie. Wir sind so in der Therapie auf meine Kindheit gekommen und tatsächlich ist mir darüber klar geworden, warum ich stark sein musste, Abstand brauche und unabhängig sein wollte. Das war genau das, was ich sein musste, um in meiner Familie bestehen zu können. Ich hätte niemanden brauchen dürfen, weil es für mich niemanden gegeben hätte. Mein Vater, der mir intellektuell näher gewesen wäre, war quasi nie zu Hause und meine Mutter habe ich innerlich verachtet, weil sie mir schwach und abhängig erschien, weil sie für die Gefühle in der Familie zuständig war.

 

Martina H.: Wie ging es dann weiter?

 

B. K.: Ich hatte dann einmal nach einer Sitzung einen Streit mit einer Bekannten – es ging gar nicht um viel, aber ich habe sie sofort iinerlich abgewertet, und schnell abgeschrieben. Und da kam mir plötzlich der Gedanke: Vielleicht mache ich das nicht nur bei Männern. Vielleicht ist das mein Muster. Und ab da wurde ich neugieriger auf mich. Ich habe begonnen, nicht nur über andere nachzudenken, sondern über mich – nicht aus Analyse, sondern mit Gefühl. Und das war neu.

 

Martina H.: Gab es später eine konkrete Situation, in der Sie das Muster noch einmal bewusst erlebt haben?

 

B. K.: Ja. Etwa ein Jahr nach dem Tod meines Partners habe ich jemanden kennengelernt – einen wirklich feinen, zugewandten Mann. Ich fand ihn toll und habe mich ihm an den Hals geworfen. Er war sehr intelligent und interessant, dazu warrmherzig, ehrlich interessiert und klar in seinen Absichten. Und das hat mich dann im Laufe der Zeit – ich weiß, wie absurd das klingt – fast panisch gemacht. Anfangs war alles ruhig und gut, wir hatten tiefe Gespräche und unsere körperliche Verbindung war wunderbar, das hatte ich bis dahin noch nie so erlebt, eine echte Verbindung. Aber mit der Zeit wurde ich zunehmend gereizter.

 

Martina H.: Was ist da geschehen?

 

B. K.: Ich habe Diskussionen angefangen, wo keine waren. Um ihn anzustacheln und dann vorzuführen. Ich habe ihn auch für Dinge kritisiert, die mich früher nie gestört hätten. Wenn er mit mir über Gefühle sprechen wollte, habe ich ihn abgewürgt – „Du zerredest alles“, habe ich gesagt. Oder ich bin mitten im Gespräch einfach aufgestanden und gegangen. Ich habe es geschafft, ihn so zu verunsichern, dass er sich zurückgezogen hat. Und dann konnte ich sagen: Siehst du, es passt einfach nicht. Ich habe mir selbst zu beweisen, dass ich „besser allein“ bin.

 

Martina H.: Was hat das mit Ihnen gemacht?

 

B. K.: Kurzfristig gab es mir wieder das Gefühl, Kontrolle zu haben. Ich war wieder in meiner Rolle: unberührbar, frei, unabhängig. Ich habe sein Bedürfnis nach Nähe als Schwäche gewertet – heute weiß ich: weil ich meine eigene Angst vor der Nähe nicht spüren wollte. Im Nachhinein war das deutlich. Ich hatte jemanden, der mich ernst nahm, der mich mochte – und ich konnte es nicht zulassen. Ich musste es sabotieren.

 

Martina H.: Hat er das erkannt?

 

B. K.: Teilweise. Er hat sehr gesagt: „Du hast es gar nicht versucht mit uns, du bist lieber gegangen als dich mit mir auseinanderzusetzen.“ Und er hatte recht. Aber ich konnte es damals noch nicht zulassen. Ich habe ihn systematisch in eine Position gebracht, in der ich ihn abwerten musste, damit ich mich selbst nicht hinterfragen musste. Und natürlich hatte er auch seine Themen, wie jeder andere auch. Er war ja auch nicht mein Therapeut, sondern Teil des Systems. Mit meiner Kritik hatte ich also irgendwie „recht“. Es war schmerzhaft, aber lehrreich.

 

Martina H.: Wie ging es mit der Beziehung weiter?

 

B. K.: Sie hat nicht gehalten. Er war irgendwann einfach erschöpft, vielleicht sogar an mir gebrochen, aber noch bevor er es gemerkt hat, habe ich ihn weggeschickt. Im Rückblick war diese Beziehung sehr wichtig für mich, weil sie mir gezeigt hat: Ich bringe meine Muster mit, egal wie der andere ist. Und ich bin selbst verantwortlich, ob ich sie durchbreche oder nicht.

 

Martina H.: Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Thema Nähe verändert?

 

B. K.: Früher war Nähe für mich gleichbedeutend mit: Ich verliere mich. Es durfte für mich nicht anders sein, als dass man sich nicht „ brauchte“. Ich konnte nicht einmal einen kleinen Gefallen in einer Partnerschaft annehmen, ohne mich tausendmal zu bedanken und immer etwas unbehaglich zu fühlen. Heute weiß ich, dass Nähe auch heißen kann: Ich bleibe bei mir und lasse j trotzdem emanden nah ran und kann es nicht nur aushalten, sondern sogar genießen. Und weil sich dadurch ein neuer Raum auftut wird es gar nicht enger und ich kann trotz Nähe atmen und habe und fühle den Freiraum, den ich brauche.

Ich habe auch Bücher gelesen, über die Beziehungen von Künstlern und Intellektuellen, die ich mochte. Briefwechsel zum Beispiel. Und da ist mir klar geworden, dass diese Menschen diesen für mich gefährlich erscheinenden Zustand der Nähe immer wieder gesucht haben. Das hat mir innerlich die Erlaubnis gegeben und auch die Motivation, die Frage zu stellen, ob an dem, was ich als „Abhängigkeit“ bezeichnet habe, auch etwas Positives sein könnte. Ich habe mich auch philosophisch mit dem Thema beschäftigt. Ich weiß, das ist schräg, aber ich bin ein Kopfmensch und ich brauchte diese Rückversicherung. Und was ich daran immer sehen konnte, war, dass diese Paare nicht nur unglaublich eng waren, sondern auch miteinander gewachsen sind. Aber das ging immer nur, solange es beide wollten. Es gibt auch Paare, da ist einer von beiden ausgestiegen, weil er oder sie es einfach nicht konnte und gar nicht wachsen wollte.

Martina H.: Und die Lektüre hat sich auf ihre Beziehungsleben ausgewirkt?

 

 B.K.: Ich selbst habe noch keine neue Beziehung, aber ich bin offen, glaube ich. Und ich beobachte mich selbst ehrlicher. Wenn ich flüchten will, frage ich mich: Wovor genau?

 

Martina H.: Was würden Sie anderen sagen, die sich in Ihrer Geschichte wiedererkennen?

 

B. K.: Dass man sich nicht verurteilen sollte, wenn man Nähe vermeidet – aber auch nicht länger davonlaufen sollte. Ich habe mich selbst immer für reflektiert gehalten – dabei war ich nur gut im Rationalisieren und Verstecken. Meine wichtigste Erkenntnis ist: es sind gerade diese ärgerlichen Impulse von außen,die einen wirklich weiter bringen. Die Bemerkungen, die einen so richtig nerven, bei denen man mit den Augen rollt, die einen aggressiv machen und die man gar nicht hören möchte, weil man sie vielleicht schon früher mal gehört hat von den Eltern oder anderen. Diese Hinweise geben die Wachstumsrichtung vor.

Ich habe so selbstsicher und selbstgerecht auf diejenigen geschaut, die mir das gesagt haben und hätte meine Chance beinahe verstreichen lassen, meine Chance, mir diese Stelle genauer anzusehen. Mein Leben wäre sicher auch dann weitergegangen. Erfolgreich und irgendwie auch gut. Aber die Dimension, die ich neu kennengelernt habe, ist so bereichernd, dass ich sehr glücklich über diese Entdeckung bin, auch wenn ich manchmal 

Ich würde sagen: Man darf und sollte sich trauen, in Frage zu stellen, was man für „normal“ hält. Denn vielleicht ist es nur die beste Überlebensstrategie, die man sich irgendwann gebaut hat. Und man darf lernen, sie abzulegen. Es lohnt sich.

Heute lassen sich viele mithilfe von künstlicher Intelligenz coachen. Ich glaube, ich hätte mir in einem solchen Coaching nie selbst diese Impulse gegeben, die ich in der Therapie bekommen habe. Und erst die haben mich dahin gebracht, wo ich heute bin. 

 

Martina H.: Frau K., ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.

 

B. K.: Ich danke Ihnen. Es ist heilsam, das heute in Worte fassen zu können. Ich wünsche allen, denen es so geht wie mir, dass sie sich trauen und spüren, wie gut es ist, sich auf den Weg gemacht zu haben!