Martina H. ist Psychologin und Paartherapeutin. Das Interview bildet den Abschluss unseres Projektes zu Bindungstypologien und -typen.
Jörn S.:
Martina, du hast dich viel mit vermeidendem Bindungsverhalten beschäftigt. Kannst du uns erklären, wie sich abweisende Vermeidung bei Männern zeigt?
Martina H.:
Ja, bei Männern sieht das meist recht offen aus. Sie wirken emotional verschlossen, distanziert, wollen ungern über Gefühle oder Konflikte sprechen. Verletzlichkeit wird oft überspielt oder sogar aktiv vermieden, und sie stellen Logik über Emotionen. Man könnte sagen: Ihre Abwehr ist sichtbar. Und wird ein bisschen auch als typisch männlich angesehen.
Jörn S.:
Und wie ist das bei Frauen? Ist das ähnlich?
Martina H.:
Nicht unbedingt. Bei Frauen ist diese Art von Vermeidung oft verdeckter. Sie sind meist so sozialisiert worden, fürsorglich, warmherzig und "nett" zu sein. Das heißt aber nicht, dass sie emotional sicher gebunden sind. Ihre Vermeidung drückt sich subtiler aus – etwa durch übermäßige Selbstständigkeit, starkes Engagement oder permanente Hilfsbereitschaft.
Jörn S.:
Du sprichst von "hyper-unabhängigen Pflegekräften" – was meinst du damit?
Martina H.:
Das ist ein passendes Bild für viele dieser Frauen. Sie geben viel – Hilfe, Aufmerksamkeit, Fürsorge – oft, ohne dass jemand darum gebeten hat. Aber sie selbst bitten selten oder nie um Hilfe. Sie wollen stark und unabhängig sein. Nähe bedeutet für sie Kontrollverlust, und davor haben sie Angst. Planung und Kontrolle sind das Fundament ihres Alltags und ihrer Beziehungen. Sie haben nie gelernt, sich auf andere zu verlassen. Diese Haltung ist eine Anpassung, keine bewusste Entscheidung.
Jörn S.:
Das klingt, als wären diese Frauen emotional anwesend – aber nicht verfügbar?
Martina H.:
Genau. Sie wirken warm, empathisch, liebevoll – aber sie lassen niemanden wirklich an sich heran. Ihre Gespräche kreisen oft um andere, selten um sie selbst. Wenn sie eigene Gefühle wie Wut, Angst oder Traurigkeit spüren, ziehen sie sich zurück. In der Tiefe bleibt eine Verbindung zu ihnen einseitig.
Jörn S.:
Und dennoch sind sie oft mit emotional nicht verfügbaren Partnern zusammen. Warum?
Martina H.:
Weil emotionale Distanz für sie sicher ist. Sie fühlen sich zu Menschen hingezogen, die ihnen nicht zu nah kommen – weil sie dann ihre eigene Verletzlichkeit nicht spüren müssen. Nähe ist ambivalent: gewünscht, aber auch bedrohlich. Das ist tragisch, weil sie sich eigentlich nach Verbindung sehnen, sie aber unbewusst sabotieren.
Jörn S.:
Wie genau sabotieren sie Nähe?
Martina H.:
Indem sie Rückzugsmuster zeigen: Pläne absagen, sich auf die Schwächen des Partners konzentrieren, behaupten, sie seien „zu beschäftigt“. Oder sie bestehen auf Kontrolle – nicht unbedingt über den Partner, aber über das Maß an Nähe. Sie beginnen manchmal Streit direkt nach einem innigen Moment, um emotionale Distanz wiederherzustellen.
Jörn S.:
Was passiert, wenn ihr Partner Unterstützung anbieten möchte?
Martina H.:
Dann hört man oft Sätze wie „Ich kann das allein“ oder „Ich bin es gewohnt, für mich selbst zu sorgen.“ Hilfe anzunehmen fühlt sich für sie wie Schwäche oder Kontrollverlust an. Selbst gut gemeinte Fürsorge kann als übergriffig oder bedrängend erlebt werden.
Jörn S.:
Wie wirkt sich das auf Konflikte aus?
Martina H.:
Sie vermeiden sie – nicht, weil ihnen egal ist, was passiert, sondern weil sie ungern über Gefühle sprechen. Viele Konflikte lassen sich aber nur auf emotionaler Ebene lösen. Also sagen sie oft: „Es ist okay“ – obwohl es das nicht ist. Die ungelösten Gefühle stauen sich dann aber bei ihnen auf und führen mit der Zeit zu Groll. Dieser entlädt sich dann an anderer Stelle oder gleich in einer Trennung.
Jörn S.:
Was steckt hinter diesem Muster? Wo kommt es her?
Martina H.:
Meist liegt die Ursache in der Kindheit. Diese Frauen sind in emotional eher kühlen Familien aufgewachsen, wo Gefühlsäußerungen ignoriert oder gar bestraft wurden. Sie mussten früh stark sein und haben Liebe eher für Leistung, Hilfsbereitschaft oder Klugheit erhalten – nicht für das Zeigen von Emotionen oder Bedürftigkeit. Verletzlichkeit wurde ihnen nie vorgelebt.
Jörn S.:
Wie äußert sich das im Alltag in einer Beziehung?
Martina H.:
Sie sagen Dinge wie „Ich liebe dich, aber ich brauche Raum.“ Nähe fühlt sich schnell einengend für sie an. Eine Nachricht, die gestern süß war, kann heute als zu viel empfunden werden. Sie ziehen sich zurück, oft ohne Erklärung – und nicht selten auch, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Jörn S.:
Wie erleben sie sich selbst emotional?
Martina H.:
Viele dieser Frauen fühlen sich unabhängig, aber nicht wirklich ruhig. Sie sind einsam, wissen aber oft nicht, warum. Sie sind kompetent, aber gleichzeitig erschöpft. Sie haben das Gefühl, beliebt zu sein, aber nicht wirklich gesehen oder verstanden zu werden. Viele haben einen großen Bekanntenkreis, aber keine Freunde, die sie intim mit allen Schwächen kennen. Das fällt bei Frauen noch mehr auf, da „beste Freundinnen“ ja durchaus sehr eng sein können. Diese Frauen glauben oft von sich selbst, dass sie „eben so sind“, statt zu anzuerkennen, dass dies eine Haltung und Schutzstrategie ist, die sie gar nicht mehr benötigen und die ihrem Beziehungsglück im Wege stehen wird.
Jörn S.:
Und was bräuchte es, damit Veränderung möglich wird?
Martina H.:
Zuerst braucht es Zweifel, dass es auch anders sein könnte, dann braucht es Mut, um sich Fragen stellen zu können und sich dem zu stellen, wovor sie so große Angst haben. Schließlich braucht es - und das entsteht durch die Fragen und die Beschäftigung mit sich - das Bewusstsein, dass dieses Verhalten eine Anpassung ist – nicht ihr wahres Selbst. Es braucht Mut, sich die Angst vor Nähe und Verletzlichkeit ehrlich anzusehen. Und es braucht eine sichere Beziehung – zu sich selbst oder zu jemandem, der bleibt, auch wenn es schwierig wird. Die Anstrengung ist groß, das bedeutet echte Wachstumsschmerzen, aber die Belohnung ist die echte Verbindung zu den Menschen, die ihnen nahestehen.