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Vermeidender Bindungsstil in Beziehungen I

Der vermeidende Bindungsstil in Beziehungen                                     

 

 1. Was ist der vermeidende Bindungsstil?

Der bindungsvermeidende Bindungsstil, auch als unsicher-vermeidender Bindungsstil bezeichnet, ist eine der vier Hauptkategorien der Bindungstheorie, die ursprünglich von dem britischen Psychologen John Bowlby entwickelt wurde. Dieser Bindungsstil entwickelt sich in der Kindheit und beeinflusst das Verhalten in Beziehungen bis ins Erwachsenenalter.

 

Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil haben Schwierigkeiten, emotionale Nähe und Verletzlichkeit zuzulassen und langfristige, tiefe Beziehungen einzugehen. Partner oder Freunde halten sie auf Distanz. Manche Menschen mit diesem Bindungsstil führen funktionale Beziehungen, in denen eine emotionale Distanz - im Idealfall für beide Partner - in Ordnung ist. Sie negieren für sich die Bedeutung emotionaler Bindungen und ordnen sie persönlichen Zielen und Erfolgen unter.

 

Menschen mit diesem Bindungsstil empfinden zwar intensiv, haben aber gelernt, ihre Gefühle nicht zu zeigen oder sich nicht auf sie zu verlassen. Verletzlichkeit vermeiden sie um jeden Preis. Sie haben hierzu einen Schutzmechanismus entwickelt, weil ihre Gefühle nicht ernst genommen wurden.  

 

Bindungsvermeidenden Menschen fällt es schwer, ihre Emotionen auszudrücken und zu teilen. Sie ziehen sich daher zurück, wenn Beziehungen emotional zu intensiv werden. Sie legen Wert auf Unabhängigkeit, um Verletzungen zu vermeiden. Sie wirken selbstbewusst, unabhängig und stark, empfinden aber unterbewusst Unsicherheiten und Ängste. Da ihnen diese innere Dynamik selbst nicht bewusst ist, nehmen sie ihr Verhalten nicht als problematisch wahr. Sie spüren jedoch einen inneren Widerspruch, denn sie sehnen sich nach Beziehungen, haben aber so große Angst davor, enttäuscht zu werden, dass sie Nähe lieber meiden.

 

Auch bei den Bindungsvermeidenden gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, wenngleich auch hier gilt, dass die Abgrenzung nicht strikt ist. Männer dieses Typs neigen eher zu Hyperunabhängigkeit und emotionaler Distanzierung. Frauen hingegen können Bindungsvermeidung auch durch Selbstaufopferung kaschieren, indem sie sich für ihren Beruf, die Familie oder ein Ehrenamt aufopfern.

 

 

2. Wie entsteht der vermeidende Bindungsstil?

Der Ursprung eines vermeidenden Bindungsstils liegt in der Kindheit. Die Eltern bindungsvermeidender Menschen nehmen die emotionalen Bedürfnisse nicht ausreichend wahr oder lehnen sie sogar ab. Als Kinder haben sie zu wenig emotionale Nähe von ihren Eltern erfahren und mussten so früh lernen, dass ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Daran haben sie sich entsprechend angepasst.

Als Schutz- und Überlebensmechanismus vermeiden sie emotionale Abhängigkeit. Sie haben gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken und sich (nur) auf sich selbst zu verlassen, da sie von außen keine Unterstützung erhielten.

 

Diese Prägung in der Kindheit führt dazu, dass diese Menschen später in Beziehungen Unterstützung erwarten, wo sie sie gar nicht (mehr) benötigen. Sie sind zudem der Überzeugung, dass Beziehungen leicht sein müssen - wie es ihre Beziehung als Kind zu den Eltern auch hätte sein sollen. Ein Kind sollte sich um die Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung seiner Eltern nicht bemühen müssen. In erwachsenen Beziehungen jedoch gibt es Themen und Konflikte, über die man sprechen muss. Sobald es dazu kommt, empfinden Bindungsvermeidende ihre Beziehung als anstrengend und schützen sich daher unbewusst vor tiefer Verbundenheit. Sobald ein Konflikt auftaucht, sehen sie das als Bestätigung ihrer inneren Überzeugung, dass Beziehungen letztlich nicht funktionieren können. Es ist ihnen dann wichtiger, ihre innere Überzeugung zu stärken als sie in der Realität zu überprüfen oder gar zu widerlegen, indem sie sich auf eine Auseinandersetzung einlassen.

 

 

 

 

3. Zusammenhang von bindungsvermeidendem Verhalten und emotionaler Unreife:

Nicht jeder mit einem vermeidenden Bindungsstil ist automatisch emotional unreif, aber es gibt deutliche Überschneidungen. Besonders dann, wenn der Vermeidungsstil stark ausgeprägt ist, zeigt sich eine emotionale Unreife im Sinne von mangelnder Selbstreflexion, eingeschränkter Emotionsregulation und Schwierigkeiten, sich auf tiefere emotionale Beziehungen einzulassen. 

Folgende Parallelen lassen sich oft feststellen.

 1. Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen

• Vermeidende Menschen neigen dazu, ihre eigenen Emotionen zu unterdrücken
   oder nicht klar zu benennen.

• Emotionale Unreife zeigt sich oft in mangelnder Selbstreflexion und der Unfähigkeit,  
  Gefühle bewusst zu verarbeiten

2. Widerstand gegen Nähe und Verbindlichkeit

• eine tiefere Verbindung wird von beiden als bedrohlich oder zu anstrengend
   empfunden

3. Mangelnde Konfliktfähigkeit

• Konflikte werden vermieden oder durch Rationalisierung entschärft, statt sich ehrlich
   mit den eigenen und den Gefühlen des Partners auseinanderzusetzen. Verantwortung
   für Beziehungsprobleme wird abgelehnt. Konflikte werden nicht konstruktiv gelöst.

4. Unklare oder ambivalente Kommunikation

• Vermeidende Personen senden oft widersprüchliche Signale: Sie wünschen sich Nähe,
   ziehen sich aber bei zu viel Intimität zurück.

• Emotionale Unreife führt dazu, dass Gefühle nicht klar kommuniziert werden   
   oder emotionale Bedürfnisse nicht erkannt werden.

 

4.Typische Vermeidungsstrategien

Bindungsvermeidende setzen unbewusst bestimmte Strategien ein, um emotionale Nähe zu umgehen. Dazu gehören:

  • Unterdrücken von Gefühlen
  • Vermeiden tiefer emotionaler Gespräche
  • Konfliktscheue
  • häufige Partnerwechsel
  • die Wahl von bestimmten Partnertypen, die selbst keine Nähe zulassen können
  • oberflächliche und funktionale Kontakte,
  • die Flucht in Arbeit, Hobbys, Vereinsleben, ehrenamtliches Engagement oder
  • der besondere Fokus auf die eigenen Kinder statt auf die Partnerschaft.

 

5. Beziehungen von Bindungsvermeidenden 

Jeder Mensch hat ein individuelles, ideales Maß an Nähe, daher könnte man sagen, dass ein bindungsvermeidendes Verhalten gar kein Problem darstellt. Bindungsvermeidende Menschen  agieren jedoch nicht aus freier Entscheidung, sondern aus einer Verletzung heraus. Sie haben aufgrund ihrer Kindheitserfahrung Angst vor emotionaler Abhängigkeit und Verletzlichkeit. Sie wollen Verbindung, aber sie haben auch Angst davor und können nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse leben. 

Sie fühlen sich in Beziehungen oft distanziert oder unverbunden, sind aber selbst nicht in der Lage, eine tiefere Verbindung herzustellen. Sie können nicht über ihre eigenen Gefühle sprechen und zeigen nur ein geringes Maß an (emotionaler) Selbstoffenbarung. Das führt dazu, dass ihre Beziehungen scheitern, wenn der Partner mehr Nähe sucht, als sie aushalten können. 

 

Für ihr Gegenüber sind sie emotional nicht erreichbar. Langfristige Verbindungen, die immer mehr Nähe aufbauen sind für sie ein schwierig, denn sie brauchen Kontrolle und Unabhängigkeit. 

  

6. Beziehungskonstellationen

Bindungsvermeidende laufen Gefahr überdurchschnittlich oft in toxische Beziehungen mit narzisstischen, emotional manipulativen oder dominanten Menschen zu geraten, weil sie sich zu distanzierten oder emotional unbeständigen Partnern hingezogen fühlen. Narzissten fordern Bewunderung, Kontrolle und emotionale Versorgung, ohne selbst viel zurückzugeben. Die Beziehung bleibt daher auf einer emotional oberflächlichen Ebene. Da bindungsvermeidende Menschen gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken und keine emotionale Abhängigkeit einzugehen, passt das – auf den ersten Blick – gut zusammen. Es funktioniert (eine Zeit lang), weil der Narzisst eine gewisse Bewunderung erhält, weil Bindungsvermeidende oft bewundern, statt emotional tief einzutauchen. Der Bindungsvermeidende seinerseits erwartet keine emotionale Nähe, was dem Narzissten entgegenkommt. Beide können in einer Art Zweckbeziehung leben, in der tiefe Emotionen keine Rolle spielen. Langfristig ist diese Beziehung für den Bindungsvermeidenden unbefriedigend, da er ja eigentlich doch Verbindung sucht, oder es ist sogar schädlich, da Narzissten oft manipulativ sind und den Bindungsvermeidenden unbewusst in emotionale Abhängigkeit ziehen – obwohl er das vermeiden wollte.

 

Eine der häufigsten Beziehungskonstellationen mit vermeidend Gebundenen (die Nähe unbewusst abwehren) ist die zu Ängstlich-ambivalent Gebundenen. Dieser Typus  sucht stark nach Nähe und hat Angst vor Zurückweisung. Obwohl die Grundbedürfnisse der beiden Typen im Konflikt zu stehen scheinen, ziehen sie sich an: Der ängstliche Partner sucht Bestätigung und emotionale Nähe, was den vermeidenden Partner unter Druck setzt. Der eine zieht sich zurück, weil ihm die Nähe zu viel wird, was beim anderen noch größere Verlustangst auslöst. Es entsteht eine Dynamik, in der der eine immer mehr einfordert und der andere immer weiter auf Distanz geht. Ohne Bewusstsein über diese Muster wird eine solche Beziehung oft sehr schmerzhaft – und dennoch bleiben viele Paare lange in dieser Konstellation, weil sie ihre Ängste bestätigt sehen. Sie bleiben in ihrer unkomfortablen, aber vertrauten Komfortzone.

 

Eine Beziehung von zwei vermeidend gebundenen Partnern bleibt oft oberflächlich, da beide Beteiligten Nähe meiden. Solche Beziehungen können lange halten, weil keiner den anderen einengt, aber sie bleiben distanziert und können dazu führen, dass beide an einem Mangel an emotionaler Tiefe leiden, denn auch bindungsvermeidende Menschen suchen Tiefe und Verbundenheit.

 

Ein sicher gebundener Partner kann in einer Beziehung mit einem Vermeidenden helfen, den Vermeidenden behutsam in eine tiefere emotionale Verbindung zu bringen. Der Vermeidende muss allerdings bereit sein, sich zu öffnen. Wenn er sich nicht öffnen will, fühlt sich der sichere Partner zurückgewiesen. Partner von bindungsvermeidenden Partnern müssen lernen, den Rückzug nicht persönlich zu nehmen: Der Vermeidende braucht Raum, und das bedeutet nicht automatisch, dass er kein Interesse hat. Die Aufgabe ist klar: Emotional stabil bleiben. Wenn der ängstliche Partner sich selbst regulieren kann und nicht in Panik gerät, sobald der Vermeidende Distanz sucht, entspannt sich die Dynamik. Im Idealfall lernen sie, gemeinsam über ihre Bedürfnisse zu sprechen. Wenn sie bewusst über Nähe- und Distanzbedürfnisse reden, verstricken sie sich nicht in den Kreislauf aus Annäherung und Rückzug.

  

Beziehungen mit dominanten oder emotional labilen Partnern

Bindungsvermeidende geraten nicht selten in Beziehungen mit sehr dominanten oder impulsiven Partnern, die emotionale Dramen erzeugen. Unbewusst suchen sie sich diese Partner, die intensiv, leidenschaftlich und kontrollierend sind, damit sie sich dann selbst die „ruhige, rationale“ Rolle geben können. Der vermeidende Partner stellt sich auf den Standpunkt: „Ich bin der Vernünftige, du bist emotional unkontrolliert.“ Das gibt ihm eine gewisse Distanz und Kontrolle über die Beziehung. Solche Beziehungen sind oft chaotisch, voller Drama, Trennungen und Wiederannäherungen. Für den Bindungsvermeidenden paradoxerweise sicherer als eine ruhige, gesunde Beziehung.

 

 

Bindungen mit gesunden Partnern 

Das Kernproblem für Bindungsvermeidende ist , dass sich gesunde Beziehungen für sie ungewohnt und fremd anfühlen – dadurch bringen sie die Versuchung mit sich, sie zu verlassen oder „kaputtzumachen“. Sie ertragen gesunde Beziehungen nicht – zumindest nicht ohne bewusste Arbeit an sich selbst. Gesunde, emotional stabile Partner drängen nicht auf Nähe, aber sind emotional verfügbar. Sie warten nicht auf den vermeidenden Partner, sondern setzen klare Grenzen. Sie fordern aber auch echte Kommunikation, Selbstreflexion und eine echte (emotionale) Verbindung ein. 

 

Solche Beziehungen mit emotionaler Stabilität fühlen sich für Bindungsvermeidende „langweilig“ an. Ihnen liegen intensive Nähe-Distanz-Spiele – eine gesunde, stabile Beziehung fühlt sich daher fremd für sie an. Sie können nicht mit jemandem umgehen, der sich nicht distanziert oder klammert. Wer ruhig und sicher bleibt, entzieht ihnen die gewohnte Kontrolle über Nähe und Distanz. Sie müssten sich dann wirklich mit ihren Ängsten auseinandersetzen. In einer gesunden Beziehung können sie sich nicht hinter rationalen Argumenten oder ihrem Rückzug verstecken. Das alles kann dazu führen, dass sie stabile Partner „ohne Grund“ verlassen oder die Beziehung bzw. sich unbewusst sabotieren.

 

 

7. Bindungssvermeidende in Langzeitbeziehungen

Das grundsätzliche Beziehungsmuster bleibt oft auch in Langzeitbeziehungen bestehen, weil sich der Partner entweder daran gewöhnt oder sich die Beziehung funktional eingespielt hat z. B. durch getrennte Hobbys oder wenig emotionale Gespräche. Das Zusammenleben gleicht dem einer WG. Viele Bindungsvermeidende leben in Beziehungen, die eher an eine Freundschaft oder eine Zweckgemeinschaft erinnern. Der Austausch ist sachlich, Konflikte werden vermieden, und jeder lebt für sich. Beziehungsvermeidende sagen sich selbst, "Ich bleibe, solange es nicht zu anstrengend wird". Sie bleiben in Beziehungen, solange keine übermäßige emotionale Auseinandersetzung gefordert wird. Wenn eine Krise oder intensivere emotionale Erwartungen aufkommen z. B. durch Kinder oder einen Schicksalsschlag, ziehen sie sich zurück oder distanzieren sich noch stärker. Oft kommt es auch zu plötzlichen Trennungen, denn manche Vermeidende beenden Langzeitbeziehungen relativ plötzlich, wenn sie sich „eingeengt“ fühlen – für den Partner kommt das dann überraschend, obwohl die Distanzierung oft schon lange vorher begonnen hat.

  

8. Der Umgang mit Trennungen

Bindungsvermeidende haben nach Trennungen oft mit einer inneren Leere zu kämpfen. Dieses Gefühl können sie jedoch nicht gut zulassen, da es sie unbewusst an ihre alte Verletzung erinnert und sie insgeheim in Panik versetzt. Den dadurch aufkommenden Schmerz glauben sie, nicht ertragen zu können. Es führt sie zurück in ihre Rolle als Kind, das von seinen Eltern alleingelassen wurde und hilflos war.

Als Erwachsene umgehen sie es, sich mit ihrer Verletztheit zu spüren, indem sie auf Ablenkungsstrategien zurückgreifen. Sie stürzen sich in Arbeit, Hobbys oder Ehrenämter oder aber sie beginnen direkt eine neue Beziehung, sie reisen viel oder engagieren sich verstärkt sozial. Alle diese Verhaltensweisen helfen ihnen, unangenehme Gefühle nicht zu spüren und verhindern so eine Entwicklung zu einem sicher gebundenen Typus. 

  

 

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